Familien brauchen starke Dörfer
- Anne-Sophie Mey

- 20. Nov.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. Nov.

Nahezu täglich höre ich den Wunsch von Eltern, dass ihre Nanny, Babysitterin oder Granny „mit zur Familie gehören“ soll. Eine vertraute Person, die bleibt, die trägt, die den Alltag mitlebt und den Kindern nahe ist. Dieser Wunsch ist zutiefst menschlich – gerade in einer Zeit, in der familiäre Netze brüchig geworden sind und Eltern vieles allein stemmen müssen.
Viele Familien machen sich deshalb aktiv auf die Suche. Sie holen sich Unterstützung in der Hoffnung, endlich wieder ein Stück von dem zurückzubekommen, was früher mehrere Generationen gemeinsam geleistet haben: Entlastung, Verlässlichkeit, ein Gefühl von Miteinander.
Doch genau hier beginnt die Ernüchterung.Obwohl eine Betreuungsperson gefunden ist, spüren viele Eltern: Die erhoffte Stabilität stellt sich trotzdem nicht ein. Das selbst gebaute „Dorf“ bleibt wackelig. Es trägt nicht so zuverlässig, wie sie es brauchen
Gute Absichten für ein Dorf und die Realität von Familien
Alle Familien und Betreuungspersonen starten mit den besten Vorstellungen. Beide Seiten wünschen sich Vertrauen, Stabilität und einen Alltag, der verlässlich funktioniert. Doch im privaten Betreuungssetting treffen Erwartungen auf Unsicherheiten. Auch, weil wir nie gelernt haben, wie professionelle Zusammenarbeit in einem Familiensystem eigentlich gelingen kann.
Ein häufiger Stolperstein ist die Intransparenz zu Beginn: Oft fehlen (detaillierte) Arbeitsverträge, definierte Aufgaben oder verbindliche Arbeitszeiten. Das ist kein böser Wille- eher Unwissen. Eltern wollen es unkompliziert halten, vielleicht auch, weil das gesellschaftliche Narrativ „es ist ja nur Kinderbetreuung“ immer noch nachwirkt. Doch genau diese Unklarheit schafft Erwartungen, die niemand ausgesprochen hat und später zu Frust führen.
Ein weiterer Punkt ist die viel gewünschte Flexibilität seitens der Eltern, die schnell zur Einbahnstraße werden kann. Pläne ändern sich, Termine verschieben sich und die Betreuungsperson soll es ausgleichen. Doch kein Mensch kann dauerhaft auf Abruf leben und gleichzeitig ein eigenes Leben führen. Trotzdem übernehmen viele Nannys diese Verantwortung – aus Loyalität und dem tiefen Wunsch zu helfen.
Verlässlichkeit ist keine Einbahnstraße.
Die Anforderungen, besonders an Nannys, sind hoch: Reisebegleitungen, Über-Nacht-Betreuung, kranke Kinder, besondere Bedürfnisse. Verantwortung, die selten sichtbar gemacht und noch seltener wirklich anerkannt wird. Wertschätzung, die sich nur im Lohn ausdrückt, reicht nicht aus. Betreuungspersonen brauchen Kommunikation, Feedback und das Gefühl, wirklich gesehen zu werden.
Care-Arbeit ist anstrengende emotionale Arbeit
Kinderbetreuung läuft nicht nebenbei. Sie verlangt emotionale Präsenz, Geduld, Mitdenken und Beziehungsgestaltung. Eltern wissen aus eigener Erfahrung, wie fordernd das ist – doch Betreuungspersonen wird diese Form der Belastung oft nicht zugestanden. Man erwartet Stabilität, Professionalität und ständige Verfügbarkeit.
Bindungsarbeit braucht Rahmenbedingungen, die stabil sind.
Ein weiterer Aspekt, der viel zu oft unterschätzt wird: Ohne gemeinsame Perspektive bleibt Zusammenarbeit funktional. Wer möchte, dass eine Nanny wirklich „dazugehört“, braucht Gespräche über Entwicklungen, Bedürfnisse, Wünsche und Zukunft. Nähe entsteht nicht einfach durch Zeit –sie entsteht durch gemeinsame Richtung.
Mütter zahlen den größten Preis, wenn das Dorf fehlt
Gerade weil in Deutschland noch viel zu oft Mütter den Preis dafür zahlen, wenn das eigene Dorf fehlt, sollten wir diese Zahlen nicht nur als Statistik, sondern als gesellschaftliche Wahrheit betrachten:
Rund 90 % aller Haushaltshilfen in Deutschland arbeiten ohne Anmeldung, also ohne Arbeitsvertrag – darunter viele Betreuungspersonen.
Mütter leisten täglich etwa 5 Stunden Kinderbetreuung, Väter rund 2,5 Stunden.
Es fehlen 306.000 Kitaplätze für Kinder unter 3 Jahren (Stand 2024)
68 % aller Mütter arbeiten in Teilzeit.
Bei Müttern mit Kindern unter drei Jahren sind es 73 %.
Die Teilzeitquote der Frauen liegt bei 49 % – die der Männer bei 12 %.
Diese Zahlen erzählen: Kinderbetreuung hat keinen echten Stellenwert in der Gesellschaft UND viele Frauen reduzieren ihre Arbeitsstunden nicht ausschließlich, weil sie es möchten, sondern weil Betreuung fehlt. D.h. weil Strukturen fehlen, die echte Entlastung ermöglichen.

Starke Dörfer brauchen starke Strukturen
Ein Dorf ersetzt keine Kita und keine Partnerschaft, aber es verhindert, dass Familien an der Last der Vereinbarkeit zerbrechen. Starke Dörfer bedeuten:
verlässliche Kinderbetreuung
Mütter, die arbeiten können,
Väter, die Verantwortung übernehmen,
Frauen, die vor Altersarmut geschützt werden,
einen Arbeitsmarkt, der Fachkräfte zurückgewinnt,
Kinder, die stabile Bezugspersonen erleben und
Betreuungspersonen, die Anerkennung und sichere Rahmenbedingungen erhalten.
Wie echte Zugehörigkeit entsteht
Doch ein Dorf entsteht nicht alleine durch das schnelle Finden einer Betreuungsperson. Ein Dorf wächst dort, wo Verantwortung gemeinsam getragen wird. Wo Verlässlichkeit eine klare (vertragliche) Grundlage hat und Betreuung als Beziehung gedacht wird- nicht als reiner Service. Es entsteht überall dort, wo Eltern bereit sind, die Zusammenarbeit aktiv und bewusst zu gestalten. Nur dann kann eine Betreuungsperson wirklich „mit zur Familie gehören“.
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